Aus der Tiefe

Der Riesenhai Megalodon ist längst ausgestorben. Es halten sich jedoch Behauptungen, er hätte bis heute in der Tiefsee überlebt. Woher sie kommen und was sich daraus über Verschwörungserzählungen lernen lässt.

(NATUR, April 2021)

„Verschwörungen bieten oft die spannendere Geschichte in Form einer vermeintlich harmlosen ‚alternativen Erklärung’.” Foto: Pixabay

Wirklich nichts, gar nichts sehe man da, am Grund des Flusses. 25 Kilo Blei am Gürtel, zwölf Meter unter der Wasseroberfläche, flach auf dem Bauch, mit der Nase dicht über dem Schlamm. Frank Jensch erinnert sich noch gut an das Gefühl, das er bis vor einigen Jahren regelmäßig im Bett des Cooper Rivers an der Ostküste der USA erlebte. „Wie ein Stein, der über den Boden schrammt.“ Eingepackt in seine Taucherausrüstung machte er sich hier auf die Suche nach etwas, das man hier häufiger als andernorts finden kann: einen Zahn des Megalodons, jenem bis zu 20 Meter langen Riesenhai, dem größten aller Zeiten, der vor mehr als 3,5 Millionen Jahren ausgestorben ist.

Was in Deutschland der Tyrannosaurus Rex, ist in den Vereinigten Staaten der Megalodon. „Hier hat jedes Kind seine Dinosaurierphase, dort jeder seine Meg-Phase“, sagt Jensch. „Noch viel gewaltiger“ und „aus dem Meer“ sei der. Jedes Jahr wühlen allein im Cooper River unzählige Menschen nach seinen Überresten, Agenturen bieten professionelle Schatzsuchen in das Gebiet an, wo der Urhai besonders zahlreich geschwommen sein soll.

Jensch sagt aber auch: „Da sind viele Spinner unterwegs.“

Auch solche, die glaubten, das Tier schwimme noch immer in den Weltmeeren. Im Netz wird einem schnell klar, die finden sich auch außerhalb der Taucher-Szene. Unzählige Videoclips und Bilder sollen belegen: Megalodon lebt. Google schlägt „lebt“ und „Sichtungen 2018“ als zwei der häufigsten Vervollständigungen des Namens vor. Der Discovery Channel hat vor wenigen Jahren einen als Dokumentation anmutenden Film unter dem Titel „Megalodon: The Monster Shark Lives“ veröffentlicht. Allenfalls gut versteckt hat der Hinweise platziert, es handle sich um Fiktion. Und einige sogenannte Kryptozoologen, die sich mit Tieren beschäftigen, für deren Existenz es
nur vage Hinweise gibt, mutmaßen, der Urhai ist nur in die Tiefsee umgezogen.

Wie jedoch kommen sie darauf, er könnte sich bis heute in den Tiefen tummeln? Und was kann man vom Mythos um „the Meg“ über Verschwörungserzählungen lernen?

Seine Größe, seine Kraft – bestes Material für Hollywood

Nachfrage bei einem, der sich seit vielen Jahren mit dem Urzeithai beschäftigt: Patrick Jambura ist Paläontologe an der Universität Wien. Er erforscht, wie sich Haie im Laufe der Evolution entwickelt haben und warum es manchen an den Kragen ging. „Megalodon ist eigentlich nur einer von vielen“, sagt er. „Aber der faszinierendste.“ Den Mythos um ihn, den könne er auf jeden Fall nachvollziehen. Stellt man einen einzelnen Zahn des Weißen Hais, dem mit bis zu sieben Metern heute größten Raubfisch, neben den eines Megalodons, wird klar, wie massiv das Tier gewesen sein muss. Daumen- versus handtellergroß war ein einzelnes Stück, bis zu 600 Gramm schwer. 250 davon hatte er im Maul, macht 150 Kilo Zähne. Sie dienten einem Biss, der als der stärkste der Welt gilt. Auf bis zu 18 Tonnen stark wird er geschätzt, das bis zu sechsfache des Weißen Hais und 180-fache des Menschen.

Seine Größe, seine Kraft – bestes Material für Hollywood. Befasst man sich hier mit Tieren, noch dazu aus der Urzeit, wird gern auf die ohnehin schon imposanten Maße noch eins draufgesetzt. In Steven Spielbergs „Weißer Hai“, dem ersten Blockbuster der Filmgeschichte, versetzte 1975 ein Hai einen Touristenort in Angst und Schrecken. In „The Meg“ kämpft Hauptdarsteller Jason Statham mit dem Vorzeithai Megalodon, der in manchen Einstellungen das Ausmaß eines Atom-U-Boots anzunehmen scheint. Reißt der sein Maul auf, so scheint es, könnte er eine ganze Fußballmannschaft verschlingen. „Erfährt man dann, dass es wirklich mal ein Tier gegeben haben soll, das noch viel größer war, ruft das eine noch größere Gruselfaszination hervor“, vermutet Jambura. „Manche möchten dann einfach glauben, dass er noch lebt.“

Aufwind bekommen die Anhänger solcher Fantasien dann immer wieder durch Geschichten wie diese: Es ist Februar 2004. An der Küste Australiens wird ein ausgeblichener Peilsender angespült, der den Meeresbiologen Rätsel aufgibt. Zwar hatten die Wissenschaftler den Sender selbst vier Monate zuvor an einem Weißen Hai befestigt, einem Weibchen, drei Meter lang. Das Gerät sollte Ort, Wassertiefe und Umgebungstemperatur messen, an denen es sich aufhält. Als sie die Daten jedoch auslesen, sind sie verwirrt: Am 24. Dezember gegen vier Uhr morgens muss das Tier eine ungewöhnlich lange Strecke ungewöhnlich schnell geschwommen und dann binnen Sekunden einen Kontinentalabhang auf etwa 580 Meter heruntergestürzt sein. Die Temperatur war dabei von acht auf 26 Grad gestiegen. Sechs Tage lang hatte sich der Sender anschließend zwischen Null und 100 Metern Tiefe bewegt, bei gleichbleibender Temperatur – bis er schließlich auftauchte und angespült wurde.

Für die Forscher gibt es nur eine Erklärung: 26 Grad herrschen in der Tiefe allenfalls im Körper eines Tiers, und für das Ausbleichen des Senders hatten Magensäfte gesorgt. Das Tier muss also einem größeren Räuber zum Opfer gefallen sein, der den Sender später ausgeschieden hatte. Nur: Wer sollte einen Hai dieser Größe fressen? Dafür kommen eigentlich nur Schwertwale infrage. Die tauchen jedoch nicht so tief. Und im Magen solcher Säuger ist es auch wärmer als 26 Grad.

Ausgestorben und wiederentdeckt

Zugegeben, es wäre nicht das erste Mal in neuerer Zeit, dass man ein Tier entdeckt, das als ausgestorben oder ausgedacht galt. Den Riesenkalmar etwa. Jahrhundertelang hatte man weder die Erzählungen von Seeleuten noch die Funde gestrandeter Kalmare mit Längen von mehr als zehn Metern ernst genommen. Erst 2004 gelangen japanischen Forschern in 900 Metern Tiefe die ersten Fotos eines Riesenkalmars in seiner natürlichen Umgebung. Oder der Quastenflosser. Lange schien klar, er hätte das Massenaussterben am Ende der Kreidezeit nicht überstanden. Bis ihn eine Wissenschaftlerin 1938 durch Zufall in einem Netz vor der südafrikanischen Küste wiederentdeckte. Bis heute gelten noch immer 95 Prozent der Meere als nicht erforscht, vor allem von der Tiefsee hat man keine Ahnung. Da ist viel Raum für Spekulationen – wer weiß schon wirklich, was dort unten alles lauert.

„Beim Megalodon sprechen aber alle wissenschaftlichen Fakten dagegen“, sagt Jambura. Arten, die man wiederentdecke, seien klein oder unscheinbar. Und anders als beim Quastenflosser und Kalmar lebte der Urzeithai nicht in der Tiefsee, zeigten heutige Funde. Stattdessen schwamm er im warmen Wasser, in Küstennähe. „Man würde ihn zumindest hin und wieder sehen, wenn er noch leben würde.“

Ob er in die Tiefsee abgewandert sein könnte? „Die Bedingungen sind dort sehr lebensfeindlich“, erklärt Jambura. Zwar hätten sich einige Haiarten geschafft, sich daran anzupassen. Für Megalodon, den riesigen Räuber, der warmes Wasser bevorzugt und viel Energie benötigt, sei die kalte Tiefsee, in der es nur wenig Nahrung gibt, aber vollkommen ungeeignet. „Der hätte eine komplette Transformation durchlaufen müssen.“ Für die es jedoch kaum Zeit gegeben hätte. Und selbst für den extrem unwahrscheinlichen Fall, dass das doch passiert sein könnte – einen getroffen habe man bislang noch nicht. „Zieht man heutzutage irgendwo einen 20 Meter langen Hai aus dem Wasser, würde das gewiss weltweit für Schlagzeilen sorgen.“

Und das Hai-Weibchen vor der australischen Küste? Ist entweder von einem Artgenossen gefressen worden – von großen Haien weiß man, die erbeuten hin und wieder kleinere. Oder, und das ist die wahrscheinlichere Erklärung, es war tatsächlich ein Schwertwal, der sich in ungewöhnliche Tiefen wagte. Die Temperatur in seinem Magen hatte das Meerwasser heruntergekühlt

Scheinbar echte Belege, einfache Erklärungen, Ungewissheit – Megalodon bringt vieles mit, was es für einen echten Mythos braucht, der sich bis zur Verschwörungserzählung steigern lässt.

Spannender als die Realität

„Verschwörungen bieten oft die spannendere Geschichte in Form einer vermeintlich harmlosen ‚alternativen Erklärung‘“, erläutern auch Katharina Nocun und Pia Lamberty in ihrem aktuellen Buch „Fake Facts. Wie Verschwörungstheorien unser Denken bestimmen“. Für manch einen Fan, so die Autorinnen,  verschwimme dabei die Trennlinie zwischen Fiktion und Realität. Die Videoplattform Youtube spiele hier eine entscheidende Rolle. Viele Menschen täten sich deutlich schwerer mit dem Lesen langer Texte als mit dem „Konsumieren kurzweiliger Videoformate“.

Zahlreiche Studien hätten zudem belegt, Menschen erinnerten sich besser an Bilder als an Texte – insbesondere an die eindrucksvollen, verstörenden und gruselnden, noch dazu untermalt mit dramatischer Musik. Ähnlich wie bei den Anhängern anderer Verschwörungstheorien, nach denen die Erde eine Scheibe ist oder die Politik von echsenähnlichen Wesen gesteuert wird, ist der Megalodon Thema vieler Videos. Hat er vielleicht doch überlebt? Könnte das nicht sein?

Natürlich gibt es im Falle von Megalodon viele Clips, die wissenschaftliche Fakten zusammentragen und zu dem Schluss kommen, er ist ausgestorben. Aber andere halten die Zuschauer bewusst im Unklaren oder schüren Zweifel. Die Vorschlagsfunktion im Internet tut ein Übriges und weist auf immer weiteres, teils krudes Material hin. Ein nicht unerheblicher Anteil der Nutzer, der sich Videos über Verschwörungserzählungen anschaut, dürfte zufällig über derartige Inhalte gestolpert sein, erklären auch Nocun und Lamberty. Der Grund: Je extremer die Stücke, desto angefixter die Zuschauer – und desto länger bleiben sie dran und generieren Werbeeinnahmen.

„Vollkommen angefixt“ war auch Flusstaucher Frank Jensch, wie er es nennt. Zwar hatte er nie daran geglaubt hat, dass Megalodon noch lebt. Zum „echten Wahnsinn“ wurde es für ihn trotzdem. Immer wieder wollte er der erste sein, der „so ein Ding“, den Zahn, in der Hand hält, nachdem es dem Tier aus dem Maul gefallen war. Bis zu dem einen Moment, an dem er sich plötzlich fragte, was er hier eigentlich macht, im Flussbett. „Drei Kinder zuhause und ich wühle im Schlamm.“ Seitdem ist er nie wieder hingefahren.