Chemnitz – Ein Jahr danach

Vor einem Jahr starb in Chemnitz ein Mann. Es kam zu Krawallen, ein jüdisches Restaurant wurde angegriffen. Wie geht es der Stadt heute?

(u. a. Hamburger Abendblatt, August 2019)

Die Steine auf ihn, die habe er verarbeitet, sagt Uwe Dziuballa ein Jahr nach dem Angriff auf sein jüdisches Restaurant in Chemnitz. Nur die hasserfüllten Augen der Täter, die gingen ihm nicht aus dem Kopf. Foto: Verena Müller

Chemnitz. Ein dumpfes Rumpeln, das hatte Uwe Dziuballa damals von drinnen gehört. Wie eine Flasche, die über die Straße rollt. Als er zur Tür an der Straßenecke herausging, standen ihm zehn, vielleicht auch zwölf teils vermummte Menschen auf der anderen Seite gegenüber. „Hau ab, du Judensau“, riefen sie. Dann flogen Glasflaschen und Steine. Er selbst wurde an der Schulter getroffen.

Dziuballa wirkt gefasst, als er von dem Angriff am 27. August vergangenen Jahres auf ihn und sein jüdisches Restaurant im Zentrum von Chemnitz erzählt. Hätte der Stein ihn damals an der Schläfe getroffen, wäre er tot gewesen, ergab später die Auswertung der Polizei.

Doch die Steine, die Wurfgeschosse und wie schwer er hätte verletzt werden können – das habe er alles verarbeitet, sagt er. Eines jedoch gehe ihm nicht aus dem Kopf: die hasserfüllten Augen der Täter. Wenige Meter entfernt von ihm. Dieser unbändige Hass, woher komme der, fragt er sich. „Ich habe denen weder was getan noch weggenommen.“

Der Überfall auf Dziuballa und sein jüdischen Restaurant war nur eines in einer Reihe gewalttätiger Ereignisse im Spätsommer vergangenen Jahres in Chemnitz. Damals geriet die Stadt weltweit in die Schlagzeilen. Auslöser war die tödliche Messerattacke auf den Deutsch-Kubaner Daniel H. am Rande des Stadtfests; die mutmaßlichen Täter zwei Asylbewerber aus Syrien und dem Irak.

Am darauffolgenden Tag kamen etwa 6000 Demonstranten zu einer Kundgebung der rechtspopulistischen Initiative „Pro Chemnitz“ zusammen, darunter gewaltbereite Neonazis und Hooligans. Neben dem jüdischen wurden später auch zwei türkische Restaurants angegriffen.

Die Diskussion darüber, ob es in diesen Tagen auch zu Hetzjagden auf Ausländer gekommen war, löste eine schwere Regierungskrise aus und führte schließlich zur Entlassung des damaligen Verfassungsschutzchefs Hans-Georg Maaßen.

Wie geht es Restaurantbesitzer Dziuballa, wie geht es der Stadt heute, ein Jahr nach den Ereignissen? Angst habe er keine. Nur die Unbeschwertheit sei ihm verloren gegangen, erzählt der 54-Jährige. In der Zeit danach habe er sich häufiger auf der Straße umgedreht, habe sich gefragt, ob er seine Kippa noch so öffentlich tragen könne – „das erste Mal“ in den vergangenen 19 Jahren, in denen es auch Schmierereien mit Hakenkreuzen und seinen Initialen am Haus, Drohbriefe, zerstochene Reifen und einen toten Schweinekopf auf dem Vordach gegeben habe.

Nein, Dziuballa ist kein Opfertyp. Er wirkt selbstbewusst in seinem Biergarten des „Schalom“ mit seiner Michelin-Empfehlung, trägt Jackett und rotes Einstecktuch, am Kragen einen kleinen Davidstern. „Aber das war schon eine neue Qualität.“

Ähnliches spüre er auch bei seinen Gästen und dem allsonntäglichen Stammtisch in seinem Lokal. Vom Opernsänger bis zum Informatiker kommen sie hier zusammen. Die Ereignisse hätten was mit den Menschen gemacht, die „Sensibilität gegenüber Strömungen“ sei gestiegen. Nachdem man damals vor Augen geführt bekommen habe, wie stark extremistische Gruppen hier in der Region organisiert sind, werde weniger schnell relativiert.

Während Dziuballa erzählt, fährt ein Streifenwagen vorbei. Routiniert grüßt er die Beamten, die hier täglich ihre Kontrollfahrten machen. Die Zusammenarbeit mit der Polizei habe sich seitdem verändert, sagt er. Erstmals seien die Beamten einfühlsam gewesen, hätten sich um seine Ängste und die seiner Frau gekümmert. Selbst die Polizeipräsidentin sei vorbeigekommen, später dann Ministerpräsident Kretschmer (CDU), mehrfach.

Auch ansonsten spürt man in der Stadt: Die Polizei ist präsent. Sie will Sicherheit vermitteln. „Manche Bürger wollen einfach immer mal einen Streifenwagen sehen, damit sie sich sicher fühlen“, erklärt einer von ihnen.

Ein Gefühl, das laut einer Umfrage vom Mai 2018 fast die Hälfte der Bewohner im Stadtzentrum nicht hätte. Und das, obwohl die Kriminalität trotz steigender Einwohnerzahlen von 2017 auf 2018 um sieben Prozent zurückgegangen ist. Chemnitz ist die sicherste unter den sächsischen Großstädten.

Woher diese „gefühlte Unsicherheit“ kommt – diese Frage stellt sich auch Dziuballa. Einige seiner Gäste, denen es an nichts mangele, forderten „generell mehr Ordnung“. „Soll ich hier noch mal durchwischen“, frage er sich dann manchmal sarkastisch.

Natürlich habe sich das Stadtbild mancherorts verändert, seit 2015 seien deutlich mehr Ausländer in der Stadt – gerade im Vergleich zu vorher. Das verunsichere viele. Weil sie sich selbst „im neuen Deutschland“ noch nicht gefestigt, sich in ihren eigenen Privilegien bedroht fühlten. Aber auch, weil sie es nicht gewöhnt seien, auf Vielfalt zu treffen. Darin sähen sie dann eine Bedrohung statt einer Chance für eine sich weiterentwickelnde Gesellschaft.

Chemnitzer FC – immer wieder rechtsextreme Vorfälle

Trotz sinkender Kriminalität ist eine Zahl in den vergangenen Jahren gestiegen: die der rechtsextremistischen Taten – laut Verfassungsschutzbericht von sechs im Jahr 2017 auf 43 im vergangenen Jahr. Auch die Zahl der Rechtsextremen in der Stadt ist überdurchschnittlich hoch. Kommen laut Verfassungsschutz deutschlandweit auf 10.000 Einwohner knapp drei Rechtsextreme, so sind es in Chemnitz acht bis zehn.

Eine wesentliche Rolle spielt dabei auch der Fußballverein der Stadt, der Chemnitzer FC. Immer wieder war es im vergangenen Jahr zu rechtsextremen Vorfällen im Umfeld des Vereins gekommen. Bei den Protesten vor einem Jahr sollen laut Verfassungsschutz rechtsextreme Hooligans aus dem Umfeld des Regionalligisten besonders aktiv beteiligt gewesen sein.

Im März dieses Jahres hatten Fans den gestorbenen Hooligan und Rechtsextremisten Thomas Haller mit einer aufwendigen Choreografie vor einem Spiel geehrt. Zuletzt warf der Club seinen Kapitän Daniel Frahn wegen dessen Nähe zur rechtsradikalen Szene raus.

Uwe Dziuballa war lange kein politischer Mensch. Man müsse sich nicht um „jeden Schwachkopf“ kümmern, dachte er sich, wenn er mal wieder beleidigt wurde. Das änderte sich, nachdem 14 Tage nach der Eröffnung seines Restaurants das Eingangsschild zerstört war. „Da merkte ich, manche lassen ihren Worten Taten folgen.“ Er wusste, er „muss politisch werden“, und begann sich gegen Antisemitismus im „Schalom e. V.“ zu engagieren, kandidierte für das Amt des Kulturbürgermeisters.

Dieses Gefühl, aktiv werden zu müssen, spürten jetzt viele in der Stadt, erzählt Sozialarbeiterin Annett Illert im Bürgerzentrum im Chemnitzer Westen. Illert kennt die Menschen hier gut. Seit 19 Jahren kommen sie hierher, für Hilfe bei Anträgen, zu Sprachkursen oder regelmäßigen Diskussionsrunden.

„Plötzlich war bei vielen der Druck da, was ändern zu müssen.“ Viele hätten sich jetzt erstmals zu Chemnitz bekannt, wollten zeigen, dass die große Mehrheit nur geschwiegen habe. Unternehmen taten sich zur Kampagne „Weder grau noch braun“ zusammen, Vereine organisierten das Bürgerfest als Ersatz für das abgesagte Stadtfest.

Urteil gegen Täter von Chemnitz: Neuneinhalb Jahre Haft

Auch dem Bürgerzen­trum wurde mehr Geld zugesagt. „Gott sei Dank, wurde das Urteil heute gesprochen“, sagt Illert zum Abschied mit Blick auf den Prozess um Daniel H.. „Die Wunden in der Stadt können nun besser heilen.“

Ende vergangener Woche hatte das Landgericht Chemnitz den 24-Jährigen Syrer Alaa S. wegen Totschlags und schwerer Körperverletzung an Daniel H. schuldig gesprochen. Das Urteil ist umstritten, die Verteidigung will in Berufung gehen. Sie sieht das Gericht „nicht unbeeinflusst von den politischen Verhältnissen in Chemnitz“, glaubt, in einem anderen Bundesland wäre es „nie zu einer Verurteilung gekommen“. Der mutmaßliche Mittäter, ein flüchtiger Iraker, ist weltweit zur Fahndung ausgeschrieben.

Am Abend der Urteilsverkündung gibt es eine Diskussion im Zentrum der Stadt. Thema „Ein Jahr danach“. Hier treffen Vertreter der AfD, die die Stadt „auf dem richtigen Weg“ sehen, auf einen Hochschullehrer, der fordert, „solchen Leuten nicht so viel Raum zu geben“. Und auf eine junge Frau, die im vergangenen Jahr in die Grüne Jugend eingetreten ist, um zu zeigen, dass „Chemnitz mehr ist“.

Alaa S. soll gemeinsam mit einem flüchtigen Iraker am 26. August 2018 am Rande eines Stadtfests in Chemnitz einen 35-Jährigen mit Messerstichen getötet und einen weiteren Mann schwer verletzt haben. Dafür wurde er verurteilt.

Alaa S. soll gemeinsam mit einem flüchtigen Iraker am 26. August 2018 am Rande eines Stadtfests in Chemnitz einen 35-Jährigen mit Messerstichen getötet und einen weiteren Mann schwer verletzt haben. Dafür wurde er verurteilt.

Sie treffen auf einen 44-Jährigen, der meint, „alle gleich als Nazis zu bezeichnen“ helfe nicht, man müsse „miteinander ins Gespräch kommen, auch wenn es wehtut“. Einen älteren Herren, der die aktuelle Situation „als Ergebnis vernachlässigter politischer Bildung“ sieht, eines „Zurückfahren des Staates“.

Wie Dziuballa die Landtagswahlen am kommenden Sonntag sehe? Neueste Hochrechnungen sehen die AfD in Sachsen bei 25 Prozent als zweitstärkste Kraft hinter der CDU mit 29,3 Prozent. Er hoffe, dass die Demokratie verteidigt werde, die sei ein fragiles Konstrukt. Leichtfertig der Politik einen „Denkzettel“ zu erteilen, wie es vielleicht manche vorhätten, sei extrem gefährlich, sagt er. „Bevor hier wieder alles im Gleichschritt läuft, sind wir weg“, fügt er hinzu. Das passiere aber nicht von heute auf morgen. „Vielleicht waren ja, so schlimm das klingt, die Ereignisse sogar ein Warnschuss, an die Stadt und das Land.“