Die neue Jagdlust

Die Zahl der Menschen, die mit dem Gewehr in den Wald ziehen, steigt rasant. Worum geht es ihnen?

(u.a. Hamburger Abendblatt, Januar 2020)

Eine Rotte Wildschweine rennt durchs Bild. Behandschuhte Finger schieben Patronen in einen Gewehrlauf. Ein Schuss fällt. Rouven Kreienmeier ist auf Jagd. Und Tausende Follower sind im Netz dabei. Fast 13.000 haben seinen Youtube-Kanal „Jagen NRW“ abonniert oder folgen ihm bei Instagram. Der 26-Jährige hat es nicht nur auf Rehe abgesehen. In seinem Heimatrevier bei Paderborn jagt er auch den perfekten Bildern hinterher: der Blick eines Rehs direkt in seine Kamera, Drohnenflüge über wolkenverhangene Baumwipfel, das erlegte Tier im Herbstlaub.

Die Jagd erlebt in Deutschland einen echten Boom. Nicht nur online, sondern ganz real. Fast 19.000 Anwärter traten im vergangenen Jahr zur staatlichen Jagdprüfung an, berichtet der Deutsche Jagdverband (DJV) in seinen neuesten Zahlen. 96 Prozent mehr als noch vor zehn Jahren. Aktuell zählt der Verband damit bundesweit fast 390.000 Jäger. Gerade junge Menschen und Städter, darunter auch immer mehr Frauen, entdecken das Hobby für sich.

Torsten Reinwald, stellvertretender DJV-Vorsitzender, spricht gar von einem Generationenwechsel. „20 Prozent der Neuanwärter haben vorher noch nie Erfahrung mit der Jagd gemacht.“ In der „heutigen Dienstleistungsgesellschaft sind wir die Gegenbewegung“, sagt Reinwald. Das „intensive Naturerlebnis“ sei für die meisten ausschlaggebend für einen Jagdschein. Für ein „grünes Abitur“, wie er es nennt. Für viele scheint es fast zum guten Ton zu gehören. Hinzu kämen der Naturschutz, bei dem man selber mit anpacken wolle, und das Fleisch. Reinwald freut sich über den anhaltenden Zustrom in die Jägergemeinschaft. „Wir haben zu viel Wild, der Wald muss davor geschützt werden.“

Auch der Ökologische Jagdverband (ÖJV), der sich nach eigenen Angaben stärker ökologischen Grundsätzen verpflichtet, freut sich über die steigende Zahl an Jägern. „Wir brauchen mehr Jäger“, sagt die Vorsitzende Elisabeth Emmert. „Damit mehr geschossen werden kann.“

Alles also eine positive Entwicklung? Mehr Jäger gleich weniger Wild gleich mehr nachwachsender Wald? Denn für das Wild sind sehr junge Bäume eine Delikatesse.

Diese Rechnung geht für viele nicht auf. Darunter Thorsten Beimgraben von der Hochschule für Forstwirtschaft in Rottenburg bei Tübingen. Für ihn sind die Aussagen der Verbände „rein interessengesteuert“. Die gäben zwar vor, vorrangig die Bestände senken zu wollen und den Naturschutz im Blick zu haben. „De facto erleben wir aber etwas anderes“, sagt Beimgraben. „Die halten die Bestände künstlich hoch.“ Das größte Geweih, die Trophäe, stehe für viele im Vordergrund. Statt des großen Bocks müssten aus seiner Sicht andere im Fokusstehen: die Muttertiere. Nur so könne man den Nachwuchs begrenzen.

„Gesellschaftliche Konventionen“ und die Angst, nicht genügend Böcke für das nächste große Geweih zu haben, verhinderten das jedoch. Eiche und Tanne, die für den zukünftigen Wald besonders wichtigen Arten, würden damit weiterhin abgefressen. Das damit aktuell von der Bundesregierung zur Rettung bereitgestellte Geld sei damit, so der Forstwissenschaftler, ein „sehr teures Fütterungsprogramm“.

560 Kilometer weiter östlich. Hier sitzt Sven Herzog, Professor für Wildökologie und Jagdwirtschaft an der Technischen Universität Dresden, und fordert einen echten Paradigmenwechsel. Er sagt: „Wir müssen die Bestände nicht überall weiter runterfahren“ – und rechnet vor: Unter natürlich Bedingungen, im Yellowstone-Nationalpark in den USA, gibt es im Schnitt 10 Hirsche auf hundert Hektar. In Deutschland ist es weniger als einer. „Und der Yellowstone ist intakt.“ Die Tiere seien extrem wichtig für die biologische Vielfalt. Sie sorgten dafür, dass sich die Arten im Wald verteilten. Ein Rothirsch etwa verbreitet rund 200 Bodenpflanzen im Wald.

Zudem: „In den vergangenen 40 Jahren wurde in Deutschland massiv erlegt, jedes Jahr mehr. Trotzdem haben wir zu viel Verbiss in den Wäldern.“ Der Grund: Durch die Jagd werden zwar viele Tiere „entnommen“. Die Bestände wachsen trotzdem. Denn das Futterangebot ist riesig. Auf den angrenzenden Feldern können sie fressen, rund um die Uhr, inzwischen selbst im Winter. Die Nährstoffe, die sie dort nicht bekommen, suchen sie sich dann im Wald – junge Triebe und Bäumchen.

Natürlich, so der Forstwissenschaftler, könne man „bis zum Abwinken jagen“, um das zu verhindern. Dann müsse man aber den Wald „weitestgehend leerschießen“. Gerade die Jagd auf Muttertiere halte er für bedenklich. „Da werden die kompletten Sozialstrukturen zerstört oder die Jungen verhungern.“

Eine Alternative, so Herzog, seien Zäune um einzelne Bäume und ganze Flächen für die ersten fünf Jahre. Auch wenn das zunächst aufwendig sei. Dann werde nicht mehr verbissen, die Bäume seien dann hoch genug. „Man gibt aber vor, das Problem durch Jagd einfacher und preiswerter zu lösen.“ Vielleicht, gibt Herzog zu Bedenken, wolle sich mancher nur das Vergnügen nicht nehmen lassen.

Die Tiere lernen, dass es für sie gefährlich ist

Herzog geht es nicht darum, die Jagd zu verbieten. Er will, dass sie sich ändert. Soll heißen: Entscheidet man sich gegen den Zaun, sollte man dort gezielt für eine begrenzte Zeit schießen, wo nachgepflanzt wird. Die Tiere lernten, dass es dort gefährlich sei, blieben den Flächen fern. Zudem müsse es Gebiete und Zeiten geben, in denen gar nicht gejagt werde. „Je mehr sich die Tiere gestresst fühlen, umso mehr fressen sie ab.“

Die neue Jagdlust sieht er daher mit Skepsis. In den vergangenen Jahren seien die Anforderungen in den Prüfungen immer weiter gesenkt worden. „In Crashkursen erhalten zum Teil Leute den Schein, die eigentlich kein Gefühl für das Ökosystem als Ganzes haben.“ Da gehe es zu oft nur um das schnelle Erlebnis und die Beute.