Wie weiter nach der Kohle?

Wenn Deutschland aus der Kohle aussteigt, fließen in die Lausitz 17 Milliarden. Was tun damit? Ideen gibt es viele vor den Ost-Wahlen.

(u. a. Hamburger Abendblatt, August 2019)

„ICE ist Schwachsinn“, sagt Weißwassers Oberbürgermeister Torsten Pötzsch vor dem Tagebau Nochten über die Pläne von Sachsens Regierungschef Kretschmer. Foto: Verena Müller

Weißwasser/Oberlausitz. Wie nah das braune Gestein den Menschen in Weißwasser ist, wird direkt hinter der ehemaligen Wohnsiedlung deutlich. Hier beginnt der Tagebau Nochten, am Horizont schließt sich beinahe nahtlos das nächste Grabungsloch an.

Dazwischen ragt das Kraftwerk Boxberg empor. Ein Drittel der deutschen Braunkohle wird in der Lausitz gefördert, die Hälfte davon hier. An der Kohle hängen in der Region direkt und indirekt rund 20.000 Arbeitsplätze, in der Stadt selbst etwa tausend. Noch dampft es aus den Türmen, aus Kohle wird hier Strom erzeugt. Spätestens 2038 soll damit Schluss sein. Die Menschen müssen den Wandelschaffen. Nur wie?

Dass die Frage hier keine neue ist, zeigt Oberbürgermeister Torsten Pötzsch einige hundert Meter vom Bahnhof entfernt. Hier stehen Häuserblöcke, gestutzt um viele Etagen, wieder aufgemotzt mit Dachterrassen und Balkons.

Etwa 5000 Wohnungen wurden bis vor neun Jahren zurückgebaut. Ende der 1980er-Jahre hatte Weißwasser 38.000 Einwohner, jetzt sind es weniger als die Hälfte. Das hat nicht nur mit der Kohle zutun. Bis zum Mauerfall war Weißwasser ein bedeutender Glasproduzent, zeitweilig einer der größten der Welt. Jetzt befürchten die Menschen, dass mit dem Ende der Kohleenergie das Schrumpfen wieder Fahrt aufnimmt.

Bund will 40 Milliarden Euro in Braunkohlereviere investieren

„Endlich eine feste Zahl. Und zum Glück nicht noch früher“, nennt Pötzsch den beschlossenen Ausstieg. „Jetzt wollen wir als Bürgermeister der Lausitz eine Modellregion für einen gelungenen Strukturwandel für die anderen 42 ehemaligen Kohlegebiete in Europa entwickeln.“

Bei jedem Schritt wippen die dunkelblonden Locken des 47-Jährigen. Er schwankt selbst zwischen Hoffen und Bangen, während er von seinen Visionen spricht: Tourismus, Wohnraum und die „Kultur des Ermöglichens“. Aus Berlin könnten die Leute kommen, in Zukunft sei man in eineinhalb Stunden hier, wenn der neue Autobahnzubringer und die schnelle Zugverbindung komme. Genügend Platz sei vorhanden. Dazu das Biosphärenreservat, das Schloss in Bad Muskau, eine moderne Eishockeyhalle „mit Zweitligaverein“, Elektroladesäulen auf dem Marktplatz.

40 Milliarden Euro will der Bund für den Wandel in den nächsten 20 Jahren in die deutschen Braunkohlereviere stecken, 17 Milliarden davon in die Lausitz. Jetzt, kurz vor den Landtagswahlen im September in Sachsen und Brandenburg, kursieren viele Ideen, was mit dem Geld geschehen soll. Wenn nichts passiert, so die Befürchtungen der Ministerpräsidenten Michael Kretschmer (CDU) und Dietmar Woidke (SPD), beide in der Lausitz zu Hause, könnte die AfD stärkste Kraft werden – und noch mehr Stimmung gegen die Energiewende machen. Im Wahlkreis Görlitz, zu dem Weißwasser gehört, holte die AfD für die Kommunalwahl 36,4 Prozent der Stimmen, für die EU 32,4 Prozent. Die Partei präsentiert sich als eine, die bedingungslos hinter der Kohle steht.

FDP will Sonderwirtschaftszone

Geht es nach Sachsens Regierungschef Kretschmer, sollen die zugesagten Milliarden in seine für die Region vorgeschlagenen „Leuchtturmprojekte“ fließen. Er sieht eine ICE-Strecke zwischen Berlin und Breslau, mit Halt auch in Weißwasser vor, eine sechsspurige Autobahn nach Polen, ein länderübergreifendes 5G Mobilfunk-Testnetz, ein Forschungsinstitut.

Die Bundes-FDP will die Lausitz hingegen zu einer „Sonderwirtschafts- und Freiheitsregion“ machen. Unternehmen würden sich demnach verstärkt in der Region ansiedeln, wenn sie weniger Steuern zahlen müssten und frei von bürokratischen Auflagen wären. „Vereinfachte Genehmigungsverfahren beim Neubau von Industrieanlagen oder bei der Verwaltungspraxis im Umweltbereich“, nennt es Torsten Herbst, FDP-Bundestagsabgeordneter aus Sachsen und Obmann für Verkehr und digitale Infrastruktur in der Fraktion. „Ähnlich, wie das bereits in einigen polnischen Regionen der Fall ist.“